Philosophie des Abolitionismus

Gewalt nicht mit Gewalt beantworten

44:06 Minuten
Demonstranten in New York City tragen ein Transparent mit der Aufschrift: "Disarm Defund Abolish".
Seit den #BlackLivesMatter-Protesten im Sommer 2020 (hier in New York) werden Forderungen nach der Abschaffung der Polizei lauter. © AFP / Getty Images North America / Byron Smith
Daniel Loick und Vanessa E. Thompson im Gespräch mit Simone Miller · 07.02.2021
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"Polizei, Gefängnisse, Flüchtlingslager – abschaffen!", eine zentrale Forderung der Black-Lives-Matter-Bewegung, die nicht nur in den USA diskutiert und mancherorts sogar umgesetzt wird. Was steckt dahinter? Und kann das funktionieren?
Seit letzten Sommer die Black-Lives-Matter-Bewegung auch in Europa zahlreiche Menschen auf die Straße getrieben hat, gibt es eine Forderung, die immer wieder zu hören und zu lesen ist: "Abolish the Police!" Und nicht nur die Polizei, auch Gefängnisse und Einwanderungsbehörden wollen die Demonstrierenden abschaffen.
Diese Forderungen haben eine lange Tradition: Der sogenannte "Abolitionismus" hat seine Wurzeln im Kampf für die Abschaffung der Sklaverei. Und hat seither eine Vielzahl unterschiedlicher Denkerinnen und Aktivisten hervorgebracht. Wie sieht die Gesellschaft aus, die der Abolitionismus anstrebt? Hat sie Chancen auf Verwirklichung? Und warum sollten wir Polizei und Gefängnisse überhaupt abschaffen?

Die Gleichheit vor der Staatsgewalt gilt immer nur für manche

"Es gab immer schon Gruppen, die von staatlichen Institutionen unterdrückt wurden und die das in ihrem Alltag auch stark gespürt haben", betont Daniel Loick, politischer und Sozial-Philosoph an der Universität Amsterdam. Nicht nur schwarze Menschen, sondern etwa auch wohnungslose Menschen, Drogennutzerinnen oder Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen würden tendenziell kriminalisiert und seien staatlicher Gewalt stärker ausgesetzt als andere.


Loick erkennt darin nicht nur einzelne Exzesse staatlicher Gewalt, sondern eine "strukturelle Tendenz": Die durch das Recht versprochene Gleichheit gelte immer nur für manche, während "für andere diese staatlichen Gewaltinstitutionen immer schon ausschließend oder repressiv wirken". Das zeige sich bereits in der Geschichte von Polizei und Gefängnis, ergänzt Vanessa E. Thompson, Philosophin und Kulturwissenschaftlerin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, so seien viele polizeiliche Praktiken zunächst in den europäischen Kolonien erprobt worden. Und die Pläne vieler moderner Gefängnisse orientierten sich am architektonischen Aufbau von ehemaligen Sklavenschiffen.
Porträt von Daniel Loick.
Daniel Loick im Kommentar.© Rainer Kurzeder
Ein aktuelles Beispiel für die Kontinuität staatlicher Gewalt gegenüber rassifizierten Gesellschaftsgruppen sieht Loick in der überproportionalen Zahl nicht-weißer Menschen in amerikanischen Gefängnissen, wo die Haft oft mit Zwangsarbeit verbunden ist: "Das geht so weit, dass durch die Masseninhaftierung heute mehr Schwarze Menschen auf den Plantagen arbeiten, als zur Zeit der Sklaverei."
Aber auch den Umgang mit Geflüchteten in Europa hält er für bezeichnend, nicht zuletzt in Lagern wie Moria, die stark durch staatliche Gewalt abgesichert seien: "Dass da Menschen Bedingungen unterworfen werden, die sie nicht nur ausschließen, sondern die auf lange Sicht ihren Tod in Kauf nehmen – das ist keine Begleiterscheinung, das kann man nicht als nebensächliches Phänomen abtun."

Reformen reichen nicht

Da die diskriminierenden Tendenzen staatlicher Gewalt strukturell bedingt seien, reiche es aus Sicht des Abolitionismus nicht, die Institutionen der Staatsgewalt zu reformieren, etwa durch mehr Diversität in der Polizei oder Antirassismus-Trainings, so Thompson. Vielmehr stelle der Abolitionismus die Legitimität dieser Institutionen grundsätzlich infrage: "Wie kann es sein, dass Kriminalisierung und Bestrafung als allgemeingültige Lösung für gesellschaftliche und soziale Problemlagen gelten?"
In den letzten Jahren habe dieser Trend, einhergehend mit einem Abbau des Sozialstaats sogar noch zugenommen – auch in Europa, betont Thompson: "Gegenwärtig sehen wir, wenn auch nicht in der gleichen Dimension wie in den USA, eine Zunahme von strafenden Institutionen und Regimen." Beispiele dafür sieht sie im neuen Bundespolizeigesetz oder der Militarisierung der Polizei, die man in verschiedenen Teilen Europas beobachten könne. Hierunter hätten wiederum marginalisierte Gruppen besonders zu leiden.
Porträt von Vanessa E. Thompson.
Vanessa E. Thompson analysiert in ihrem aktuellen Projekt Formen des Polizierens von Schwarzen Menschen in Europa. © Alexander Vorbrugg
Abolitionistische Ansätze versuchten dagegen, die Gesellschaft insgesamt in den Blick zu nehmen, die Bedingungen von Gewalt zu verstehen und zu verändern, so Thompson: "Niemand von uns steht außerhalb von Gewalt. Auch wenn die Dimensionen graduell unterschiedlich sind, sind wir alle – in diesen rassifizierten, vergeschlechtlichten, kapitalistischen Verhältnissen – Leute, die Gewalt ausüben und Gewalt erfahren. Wir alle wachsen in einer Gesellschaft auf, die sehr stark auf Bestrafungen setzt – anstatt zu schauen, was sind eigentlich Ursachen für Gewalt."
Das Ausüben von Gewalt wurzele oft in eigenen Gewalterfahrungen. Der Kern des Abolitionismus bestehe deshalb darin, "auf Gewalt nicht mit noch mehr Gewalt zu reagieren. Sprich: andere, emanzipatorische, transformative Umgangsweisen mit Gewalt zu finden."

Institutionen nicht nur abschaffen, sondern neuerfinden

Als Beispiel nennt Thompson das Konzept der "Transformativen Gerechtigkeit", das zum einen versuche, "die von Gewalt betroffene Person in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen, aber auch mit der Person, die Gewalt ausgeübt hat, in Richtung Transformation zu arbeiten". Es gehe also darum, die von Gewalt betroffenen Milieus darin zu unterstützen, selbst Strategien zu entwickeln: "Was brauchen gesellschaftliche Gruppen und Communities, die kriminalisiert sind, und wie schaffen wir die Strukturen, um Gewalt zu vermindern?"
Treibende Kraft hinter Konzepten der kollektiven Verantwortungsübernahme seien vielfach Menschen, die sowohl mit staatlicher Gewalt als auch mit Gewalt innerhalb des eigenen Umfelds zu kämpfen hätten, beispielsweise mit häuslicher und sexueller Gewalt, und vor diesem Erfahrungshintergrund friedlichere Formen des Zusammenlebens aufbauen wollen.
Insofern suggeriere der Name der Bewegung – Abolitionismus – eigentlich eine falsche Vorstellung, so Loick: Denn Ziel sei nicht einfach eine Abschaffung, sondern auch eine "Neuerfindung von Institutionen". Und zwar nicht im Sinne einer einzigen Lösung, sondern durch die Einbeziehung verschiedenster Gesellschaftsbereiche, "wie zum Beispiel Wohnen, Gesundheitsversorgung, Drogenpolitik, Kampf gegen patriarchale Strukturen – und das alles steht unter dem Begriff der abolitionistischen Demokratie, das versteht sich also als Demokratisierungsbewegung".
Am Horizont abolitionistischer Ansätze stehe im Übrigen keineswegs die Utopie einer völlig gewaltlosen Gesellschaft, betont Loick: "Sondern die Idee ist gerade: Aggressivität, Gewaltförmigkeit, das ist geschichtlich gesehen so stark Teil unserer zwischenmenschlichen Interaktion, dass es falsch wäre zu glauben, wir könnten die Gewalt einfach isolieren oder wegsperren."

Vielmehr gehe es darum, "Umgangsweisen zu finden, die die Gewalt, die in unserer Gesellschaft herrscht, wenn nicht komplett eliminieren, aber doch reduzieren". Der Abolitionismus sei dabei eher als selbstreflexiver Prozess zu verstehen, denn als fertige Lösung.

Ein Umdenken ist alternativlos

Obwohl ein Ende von Polizei und Gefängnissen derzeit nicht in Sicht ist, sind Thompson und Loick zuversichtlich: "Abolitionistische Praktiken passieren schon die ganze Zeit", betont Thompson: "Wir sehen das an unterschiedlichen Projekten, innerhalb der mehrfach marginalisierten, ausgeschlossenen Communities, die sich gar nicht auf die staatlichen Institutionen verlassen können und durch diese noch Gewalt erfahren. Ich glaube, es ist wichtig, in Zukunft mehr Raum für solche Projekte zu schaffen."
Loick verweist auf die US-amerikanische Stadt Minneapolis, wo der Stadtrat nach Fällen exzessiver Polizeigewalt und den darauffolgenden Protesten die Auflösung der Polizei beschlossen hat. Und in Europa führten die Bilder von Grenzschutzpraktiken und Lagern wie Moria immer deutlicher vor Augen, "wie drastisch und skandalös die Gewaltverhältnisse für viele Menschen sind. Insofern würde ich sagen: Es gibt keine Alternative dazu, darüber nachzudenken, wie wir unser gesellschaftliches Zusammenleben gestalten können, ohne auf so dramatische Gewaltformen zurückzugreifen."
(ch)

Vanessa E. Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Vergleichenden Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Sie forscht und lehrt im Bereich der kritischen Rassismus- und Migrationsforschung, postkolonial-feministischen Theorien sowie den Black Studies. In ihrem aktuellen Projekt analysiert sie Formen des Polizierens von Schwarzen Menschen in Europa.

Daniel Loick ist Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Er ist Herausgeber des Bandes "Kritik der Polizei", der 2018 im Campus-Verlag erschienen ist.

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

100. Todestag von Kropotkon – Visionär einer freien Gesellschaft
Er war Geograf, Schriftsteller, Aktivist – und einer der bedeutendsten Vordenker des kommunistischen Anarchismus. Vor 100 Jahren ist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin gestorben. Am Rand von Moskau ist heute ein Museum untergebracht – Thielko Grieß hat es für uns besucht.

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